
GESCHICHTE DER ORGEL, Teil 2
Die Anfänge der Orgel wurden bereits eingangs erläutert. Wie aber wurde die Orgel, ein
Instrument mit solcher Vergangenheit, zu DEM Instrument des Christentums schlechthin?
Und wie entwickelten sich aus den Portativen der Antike derart große Instrumente?
Mit anderen Huldigungsgeschenken gelangte im achten Jahrhundert auch eine Orgel vom byzantinischen Hof, wo
sie in römischer Tradition als Akklamationsinstrument diente, an den karolingischen Hof.
Auch dort wurde sie als Symbol der Macht verwendet. Im Laufe des ersten Jahrtausends nutzten
zunehmend auch hohe geistliche Würdenträger, die sog. Kirchenfürsten, die Orgel als Symbol
ihres (weltlichen) Ranges. So kam die Orgel in die Kirche. Bis aus dem Machtsymbol allerdings ein
Instrument zur Begleitung des Gemeindegesanges, ja ein Konzertinstrument werden konnte,
mussten noch einige, über Jahrhunderte andauernde, Auseinandersetzungen geführt werden.
Denn der Einsatz der Orgel bei den Festen und Orgien der Antike (und wohl auch bei den Hinrichtungen von Christen im Circus)
war nicht völlig in Vergessenheit geraten und damit war dieses Instrument in den Augen der Kirchenväter
natürlich zur Verwenung beim Gotteslob indiskutabel. Sogar auf Konzilen befasste man sich mit der Frage, ob die
Verwendung von Orgeln, ja von Musikinstrumenten überhaupt, im Hause Gottes zulässig sei.
Nachdem Orgeln zuvor nur den Weg in wenige vereinzelte Kirchen in England und Frankreich gefunden hatten, war im
13. Jahrhundert die Diskussion soweit abgeflaut, dass sich die Orgel schließlich (trotz gegenteiliger Konzils-Beschlüsse!)
als Begleitinstrument für Hymnen, Sequenzen und später auch für den Gemeindechoral etablieren konnte.
Bis ca. 1500 wurden dann (wieder) die maßgeblichen Erfindungen gemacht, die eine Weiterentwicklung der Orgel erlaubten,
die ja zu diesem Zeitpunkt noch etwa im Stadium des Portativs verharrte. Denn die Etablierung
in der Kirche hatte zur Folge, dass Orgeln nun einen festen Platz hatten. Dies führte wiederum dazu, dass sich in den nun folgenden 400
Jahren aus den kleinen, tragbaren Orgeln der Antike und des Mittelalters allmählich Instrimente mit beachtlichen, teils monumentalen Ausmaßen entwickeln
konnten.
Zu den wegweisenden Entwicklungen gehörten:
- die Erfindung des Wellenbretts, das die starre räumliche Zuordnung der Tasten und der jeweils zugehörigen Pfeifen zueinander auflöste,
- die Fähigkeit, den Mensurverlauf der Register so zu gestalten, dass die Klangfarbe über den Tonhöhenverlauf gleichbleibt,
- Die Einführung des Pedals und dessen Weiterentwicklung zu einem autarken Teilwerk,
- die Mehrmanualigkeit,
- die Wiederentdeckung der Registrierfähigkeit und -kunst,
- die Integration der kleinen Orgelpositive in ein großes Hauptwerk als Brust- und Rückpositiv.
Dabei bildeten sich (bedingt durch politische, konfessionelle und ritusbezogene Unterschiede)
ab ca. 1500 regionale Baustile heraus, die sich bis zur Romantik verfeinern und weiterentwickeln sollten.
Eine italienische Orgel des 18. Jahrhunderts ist beispielsweise fast nicht zu vergleichen mit
einer französischen derselben Zeit, obwohl beide für den römisch-katholischen
Ritus bestimmt waren: Während sich die italienische Orgel (wie auch die spanische) seit etwa 1500 über eine gewisse,
recht bescheidene Größe nicht weiter hinausentwickelt hatte, in ihrer Dispositionsweise nach stark dem Blockwerk verhaftet blieb
(lückenloser Prinzipalaufbau vom 16' bzw. 8' bis ½', wenige
Flötenregistern, seltene Verwendung von Zungenregistern und selten mehr als 20 Register auf 2
Manualen mit angehängtem Pedal) und damit dem Ripienoklang, also dem ausgewogenen Gesamtklang aller Register huldigt, verfügte die französische Orgel
bereits zu diesem Zeitpunkt oft über beeindruckende Dimensionen: 60 Register, verteilt auf vier bis fünf Manuale, waren
durchaus anzutreffen. Dabei legte der französische Orgelbau sehr großen Wert auf eine große
Vielfalt solistisch verwendbarer Register, weswegen beispielsweise bis zu vier (unterschiedlich intonierte)
Kornett-Register neben einer verhältnismäßig großen Anzahl von (sehr kraftvoll intonierten)
Zungenregistern typisch für diese Orgeln sind.
Besonders aber im konfessionell und politisch zersplitterten Deutschland entstand eine verblüffende Vielzahl
von regional typischen Bau- und Dispositionsprinzipien, die sich heute noch in ihren Grundzügen erleben lassen.
Schon allein an der Gestaltung der Prospekte lässt sich die erhebliche Unterschiedlichkeit der
Konzeptionen erkennen.
Eine umfassende Darstellung ist hier unmöglich, ein kleiner schematischer Überblick sei jedoch gegeben:
Ganz grob lassen sich zur Hochzeit der Orgel im Barock drei in ihrer Orgelbautradition deutlich verschiedene Regionen beobachten:
Norddeutschland, das in seiner Orgelästhetik stark durch die ebenfalls evangelischen Niederlande beeinflusst wurde, noch stark
dem Klangideal der Renaisance verhaftet ist und den konsequenten Werkaufbau pflegt. Dann Mitteldeutschland, das
- wiewohl auch großteils evangelisch geprägt - einem klanglich weniger spröden Orgelideal huldigt, früh "Charackterstimmen" wie Quintadenen und Streicher
kultiviert und im französisch beeinflussten Schaffen Gottfried Silbermanns seinen unübertroffenen Höhepunkt findet.
Schließlich das stark katholisch geprägte und sowohl vom italienischen wie vom französischen Orgelbau beeinfluste Süddeutschland mit seinem
erheblich "weicheren" und früh streicherbetonten Klang. Innherhalb dieser Regionen lassen sich wiederum viele kleine
Orgellandschaften feststellen.
Neben dem niederländischen und dem davon (zumindest in seinen Anfängen) abhängenden iberischen
Orgeltypus entwickelte sich in England eine vollkommen eigenständige Orgelbautradition.
Dort blieben die Instrumente bis weit ins 19. Jahrhundert hinein klein, sehr schematisiert und
zumeist ohne Pedal. Alle Neuerungen, die zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert Eingang in den
englischen Orgelbau fanden, waren kontinentaleuropäisch und wurden von eingewanderten
(zumeist deutschen) Orgelbauern initiiert. Bis auf eine wichtige Ausnahme: Den Schwellkasten. Der entwickelte sich
unabhängig voneinander im Spanien und England des 18. Jahrhunderts und fand bald beigeisterte
Aufnahme im kontinentaleuropäischen Orgelbau.
Diese mannigfaltige Vielfalt fand jedoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein rasches Ende.
Mit dem Beginn der Romantik und des Historismus begann sich die Entwicklung auf drei Grundtypen
der Orgel hinzubewegen: Die deutsch-romantische, die französisch-romantische und die englisch-romantische Orgel.
Alle Formen nutzten die rasante technische Entwicklung, die auch im Orgelbau viele Hindernisse
(besonders hinsichtlich der Maximalgröße einer Orgel) beseitigte, und ihnen gemeinsam war auch das
Ziel: Erreicht werden sollte ein Klang, der dem des symphonischen Orchesters ebenbürtig war und ihn
imitierte.
Die Methoden aber, mit denen der Orgelklang diesem Ideal angepasst werden sollten, waren
verschieden: Der deutsche Orgelbau setzte auf eine Massierung von labialen Registern der 8'-Lage,
einhergehend mit deren exzessiver Ausdifferenzierung in Mensurierung und Klang bei weitgehendem Verzicht auf Zungenstimmen und Mixturen.
In Frankreich wurden dagegen die traditionellen, bewährten Dispositionsgrundsätze bewahrt und lediglich durch die Neuentwicklung
von labialen Registern, die Weiterentwicklung der rassigen französischen Zungen und die behutsame
Verbreiterung des Klangfundamentes modifiziert.
Dadurch behielt die französische Orgel ihr farbiges, brillantes, von zahlreichen, starken
Zungenstimmen geprägtes Klangbild.
Auch in technischer Hinsicht war man in Frankreich traditioneller eingestellt: Während in
Deutschland ab etwa 1880 die Kegellade mit rein pneumatische Traktur Schleiflade und mechanische
Traktur binnen weniger Jahre vollständig verdrängte, behielt man diese in Frankreich, mit
pneumatischen Hilfen, bis zum Aufkommen der elektrischen Traktur etwa um 1920, bei.
Der romantische Orgelbau in England stellt quasi eine Synthese dieser beiden recht gegensätzlichen Orgelbaustile dar.
Dort hatte man den enormen Rückstand zum Kontinent binnen weniger Jahrzehnte
aufgeholt und durch die Verschmelzung traditionell englischer und romantischer französischer
und deutscher Komponenten eine Art Kompromiss zwischen den beiden letzteren geschaffen.
Plakativ ausgedrückt: Häufung von Grundstimmen bei gleichzeitig üppiger Verwendung von
sehr ausdifferenzierten und oft klanggewaltigen Zungenregistern. Allerdings sind diese nicht schmetternd und brillant wie in Frankreich,
sondern eher obertonarm und äußerst voluminös. In Potenz trifft dies für die Hochdruck-Zungenregister
zu, die anders als beispielsweise die spanischen und französischen horizontalen Chamade-Register nicht durch
überdeutliche Obertöne wirken, sondern vielmehr durch eine beeindruckende Klangintensität. Ein Vergleich mit
Pfeffer vs. Ingwer ist vielleicht ganz passend: Harte, spitze Schärfe gegen warme, intensiv-langanhaltende Schärfe.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts treten zwei gegensätzliche Entwicklungen zutage, von denen die
eine die andere bedingt: Durch die stark vermehrten technischen Möglichkeiten und die industrielle Arbeitsteilung war nicht nur die
Produktionsgeschwindigkeit von Orgeln von durchschnittlich einem Jahr auf wenige Monate, ja
Wochen gesunken, sondern auch der Größe einer Orgel waren nahezu keine technische Grenze mehr gesetzt.
Dies führte zu gewaltigen, ja gigantomanischen Orgelbauten, die jede bisher gekannte
Größenordnung durchbrachen. Genannt seien hier nur die "Spitzen des Eisbergs":
Passau, Dom: 233 Register (1928), Nürnberg, Kongresshalle der Reichsparteitage: 220 Register
(1936), Atlantic City, Convention Hall: 449 Register (1929). Letztere ist die größte Orgel der
Welt.
Aber bereit um 1880 hatte es eine Entwicklung zu Instrumenten gegeben, die 100 Register und
mehr aufzuweisen hatten. Gleichzeitig sank aber die Qualität vieler Orgelwerke bezüglich ihrer
Konstruktion und vor allem Intonation bedenklich, was auch mit der zunehmenden Schematisierung in
Konzeption und Fertigung zusammenhing. Gegen diese Entwicklung erhoben sich kurz nach 1900 die
ersten, noch vereinzelten Stimmen. Insbesondere Albert Schweitzer und Emil(e) Rupp propagierten
eine Orgelreform, die zu den "wahren Werten" des Orgelbaues, die im Barock gesehen wurden,
zurückführen sollte. Aus dieser elsässisch-deutschen Orgelreform, die durchaus an wesentlichen
Charakteristika der romantischen Orgel deutscher und französischer Prägung festhalten wollte, ging ab den 1930er
Jahren die wesentlich radikalere norddeutsche Orgelbewegung hervor, die das Ideal für eine jede
Orgel in einem kalten, starren und unpersönlichen, also unsentimeltalen Klang sah, als dessen Vorbild man die Instrumente
der norddeutschen Meister des 17. Jahrhunderts betrachtete, weswegen diese Stilistik auch oft verknappt als "neobarocke Orgel" bezeichnet wird.
Bis man zu Beginn der 80er Jahre den positiven Errungenschaften des romantischen Orgelbaues wieder
verstärkt Aufmerksamkeit schenkte, waren, insbesondere in Deutschland, zahllose romantische Orgeln
(darunter Meisterwerke von höchstem Rang) entweder bis zur Unkenntlichkeit verändert oder
gänzlich beseitigt worden. Das nicht zuletzt auch deswegen, weil es bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein nur einen höchstens sehr vagen Begriff von "Denkmalwürdigkeit" gab. Bis dahin war es im Orgelbau
jahrhundertelang Usus, von überkommenen alten Instrumenten bei einem Neubau das zu verwenden, was
noch brauchbar erschien und den Rest zu verwerfen. Auch, als man längst den historischen Wert von Orgelgehäusen
oder zumindest -prospekten erkannt hatte, galt dieser Schutz noch lange nicht für das "Innenleben", also die
eigentliche Orgel. Bis in die 1960er Jahre hinein wurden (wenn auch nur noch vereinzelt) barocke
Instrumente radikal modernisiert oder gar ganz beseitigt. Mit (im weitesten Sinne) romantischen Orgeln
verfuhr man noch erheblich länger und radikaler auf diese Weise.
In Frankreich fiel die Entwicklung, wie so oft, gemäßigter aus. Hier hatte beispielsweise
Aristide Cavaillé-Coll, der heute als der romantisch-symphonische Orgelbauer Frankreichs gilt,
häufig in Orgelneubauten überkommenes Pfeifenwerk und teilweise sogar Windladen weiterverwendet, wenn
sie von hoher Qualität waren. Zwar wurden auch in Frankreich mit dem Einsetzen der Orgelbewegung
romantische Instrumente umgebaut oder ersetzt, aber es kam nicht zu einer so
flächendeckenden, exorzismushaften "Ausrottung" wie in Deutschland, wo der Zweite Weltkrieg ohnehin schon
unschätzbare Werte in Schutt und Asche hatte sinken lassen.
Gegenwärtig erlebt der romantische Orgelbau, zunächst der französische, inzwischen aber auch der deutsche und englische, eine weltweite
Renaissance. (Dass hierbei der französischen Variante oft der Vorzug vor der deutschen gegeben wird, düfte nicht
zuletzt daran liegen, dass in Frankreich niemals die grundsätzlichen Prinzipien des "klassischen Orgelbaus" aufgegeben wurden. Dadurch
sind die Orgeln erheblich "bodenständiger", technisch konservativer und organischer konstruiert als beispielsweise in Deutschland, wo auf
Aspekte wie dauerhaftes Material, solide Verarbeitung und gute Zugänglichkeit wenig Rücksicht genommen wurde. Deutsch-romantische Orgeln sind oft
durch einen eher "chaotischen" und überfüllten inneren Aufbau gekennzeichnet. Die technische Experimentierfreudigkeit in Deutschland mit all ihren
auf lange Sicht nicht zuverlässigen Systemen tut hier das Ihrige dazu.) Wenn heute neue Orgeln im Stil der deutschen Romantik neu gebaut werden,
becshränkt sich der Historismus meist auf die Disposition und die Intonation. Andere wesentliche Merkmale wie Kegelladen und Röhrenpneumatik
werden nur seltenst neu gebaut, wiel hierzu erstens die Erfahrung fehlt und insbesondere im Falle der Pneumatik auch die technische Präzision und
Zuverlässigkeit fraglich ist.
Gleichzeitig ereilt die Instrumente der Orgelbewegung oftmals ein recht ähnliches
Schicksal wie einstmals ihre Vorgänger: Sie werden als qualitativ mangelhaft, musikalisch
unbefriedigend und konzeptionell verfehlt deklariert und umgebaut oder beseitigt. Es scheint,
als wiederhole sich die Geschichte und als wäre unsere Generation nicht davor gefeit, sehenden Auges
dieselben Ferhler wie die Generationen vor uns zu begehen. Im Grundsatz gesteht man den Instrumenten der "Orgelbewegung"
zwar ihre Existenzberechtigung zu, aber in beinahe jedem Einzelfall findet sich dann doch ein schwerwiegender Grund,
warum man an gerade dieser Orgel zumindest "korrigierend" eingreifen muss, anstatt sie vorbehaltlos zu schützen. Oder aber
das Instrument wird als ohnehin materiell so verbraucht bewertet, dass man besser in einem völligen Neuanfang sein Heil sucht...
Angesichts dieser Entwicklung bleibt abzuwarten, was die organologischen Entwicklungen der kommenden Jahre sein werden.
Vielleicht lernen wir ja doch noch dazu.
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