Orgeln in Paris
oder: "Lasst alle Hoffnung fahren!"
Wer
auf Orgeltour nach Paris geht, steht vor einem dreifachen
Dilemma: Welche Orgeln schaut (bzw. hört!) man sich an, welche Kirchen nimmt
man der Architektur wegen noch mit und überhaupt: Wenn man schon
mal da ist, sollte man nicht auch gleich noch nach XY fahren,
weil da ja auch noch eine angeblich ganz tolle Orgel/Kirche/Statue/etc. steht?
Nun,
mir waren diese Entscheidungen bislang weitgehend abgenommen.
Wann immer ich in Paris war, um Orgeln zu hören (und zu
sehen!), dann in einer Reisegruppe mit festem (randvollem)
Programm. Die erste Reise im Mai 2006 umfasste Paris mit
St-Sulpice, La Trinité, St-Antoine-des-Quinze-Vingts,
St-Augustin, La Madeleine, St-Denis und natürlich Notre-Dame
und zusätzlich Pontoise (Kathedrale), Rouen (St-Ouen) und
Laon (wiederum Kathedrale), die zweite im Oktober 2007 nochmals
St-Sulpice, La Trinité, St-Antoine-des-Quinze-Vingts,
La Madeleine, St-Denis, Notre-Dame und dazu St-Roch,
Notre-Dame d'Auteuil, Ste-Clotilde und die Kathedralen von
Versailles und Soissons.
Halten
wir fest: Das Programm war in beiden Fällen für knapp
vier Tage das Maximum. Irgendwann kann auch der größte
Orgelfanatiker keine Pfeifen mehr sehen (und hören) und
seien sie zehnmal von Clicquot oder Cavaillé-Coll. Zumal sich bei
einigen Reiseteilnehmern das Interesse ja nicht in Orgeln
erschöpfte, sondern auch der (Kirchen-)Architektur und den
Städten selbst galt. Letzteres vor allem bei denen, die zum
ersten Mal in Paris oder gar Frankreich waren.
Ich
kann von Glück sagen, dass ich vor diesen Orgelstudienreise bereits zweimal in
Paris gewesen war (wenn auch jedes Mal weniger als 72 Stunden)
und dadurch auf das Touri-Pflichtprogramm getrost verzichten
konnte. Doch auch so blieb genug zu tun: Paris ist voll von
Kirchen, die nicht nur organologisch, sondern auch
architektonisch und/oder kunstgeschichtlich jede für sich
hochinteressant sind und besucht sein wollen. Und sogar einige
säkulare Bauwerke sollen angeblich ganz nett anzuschauen sein. Doch soll hier
eigentlich nur die Rede von den Orgeln sein:
Die
Fahrt 2006 begann mit einem Paukenschlag: St-Sulpice. Wie
es unser Reiseleiter so schön formulierte: in St-Sulpice steht
die größte, in St-Ouen (Rouen) die voluminöseste und
Notre-Dame (Paris) die lauteste Orgel Cavaillé-Colls. Wer die
Orgel von St-Sulpice (wie ich) nur von CDs kennt, wird womöglich
enttäuscht sein, wenn er sie erstmals "live"
hört: Die Orgel hat berückenden Schmelz, klingt groß
und satt. Aber trotz ihree über 100 Register klingt sie im weiten Raum keineswegs übermäßig laut, sondern
etwa wie die Cavaillé-Coll-Orgel von Notre-Dame d'Auteuil
oder andere mittlere Instrumente, die nicht einmal halb so viele
Register haben! Das liegt - wenn auch nicht ausschließlich - an dem
(diplomatisch formuliert) akustisch ungünstigen
Gehäuse von Jean-François-Thérèse Chalgrin, das architektonisch allerdings
seinesgleichen sucht. Dieser dorische Tempel mit seinen massiven
(!) Säulen und überlebensgroßen Figuren vor den
Pfeifenmündungen frisst den Klang schlichtweg auf. Selbst
eine Bombarde 32’ klingt in dieser Umgebung fast wie ein
Kätzchenschnurren (zugegeben, wie das Schnurren einer sehr
großen Katze!). Natürlich: Die Orgel
klingt imposant, hat traumhafte Klangfarben. Aber angesichts der
102 Register auf dem Papier klingt die Orgel geradezu
schockierend zurückhaltend, beinahe kammermusikalisch. Nun gut, das war jetzt etwas sehr zugespitzt formuliert. Aber wer orgiastisches Gedröhne erwartet, ist hier falsch.
Was im übrigen
wohl nur wenige wissen: In dieser als Inbegriff
französisch-romantischer Orgelkunst geltenden Orgel von
St-Sulpice hat Cavaillé-Coll nolens volens (vielleicht auch eher volens als nolens...) zahlreiche
Stimmen der barocken Vorgängerorgel von Clicquot
weiterverwendet. Und das so pietätvoll, dass ein
authentisches Spiel französisch-klassischer Literatur heute
noch ohne weiteres möglich ist. Die Mischung aus barocken
Mixturen, Cornets und Zungen und Cavaillé-Collschen
Prinzipalen, Streichern und Flöten ist, man glaubt es auf
dem Papier kaum, ganz außerordentlich gut gelungen. Man
könnte von einer Kompromissorgel wider Willen sprechen, die
vielleicht gerade deshalb so überzeugend klingt.
(Wer
mehr über dieses absolut faszinierende Instrument wissen und
vielleicht sogar einmal Maître Daniel Roth am Spieltisch in
Aktion erleben möchte, sei auf www.stsulpice.com
verwiesen.)
Ergänzend
sei noch erwähnt, dass es auf der Empore von St-Sulpice
wirklich sagenhaft eng ist. Die französischen Orgelemporen
scheinen immer sehr knapp dimensioniert zu sein, aber in
St-Sulpice ist sie es ganz besonders. Zwischen Hauptgehäuse und
Prospektpfeifen des Rückpositivs (das ja stumm und hohl ist,
siehe Foto) liegen allerhöchstens drei Meter, von denen der
Spieltisch in seiner Tiefe fast zwei beansprucht. Auch zu beiden
Seiten des Spieltisches hin bleibt jeweils nur ein knapper Meter
fünfzig bis zum hufeisenförmigen Orgelgehäuse.
Nichts für Menschen mit Platzangst.
Auch
in der Trinité ist zwischen Orgelgehäuse und
Emporenbrüstung gerade noch genug Platz für den
Spieltisch und einen nicht allzu vollschlanken Menschen. Doch
klanglich ist hier schier kein Vergleich mit St-Sulpice möglich.
Diese Orgel klingt sehr knackig, biegsam, frisch. Zugegeben, sie
ist auch längst nicht so original erhalten wie St-Sulpice und ihre
Disposition wurde merklich „aufgefrischt“.
Nichts desto trotz: Ein typischer CC-Sound. Nur halt nicht ganz
so dunkel-mystisch wie original. Der Kontrast zu St-Sulpice ist
enorm. Die Orgel ist nur knapp halb so groß und besitzt
keinen lingualen 32’ und doch klingt sie wesentlich
präsenter und kräftiger im Raum und die Bombarde 16’
gibt sich alle Mühe, als 32’ zu erscheinen.
Der
dortige Organist, Naji Hakim (ja nun nicht eben ein Unbekannter),
darf übrigens pro Woche an seiner Orgel sage und
schreibe DREI STUNDEN üben!!! Unser Récital wurde
davon natürlich abgezogen! Nicht zu fassen. Allerdings lag
ja bereits Alexandre Guilmant, auch er ein berühmter Organist
in der Trinité, überkreuz mit seinem Pfarrherrn...
(P.S.: Naji Hakim ist seit 2008 nicht mehr Organiste
titulaire der Trinité)
Übrigens
sind die berühmten Organistenstellen in Paris (und auch sonstwo in Frankreich) erbärmlich schlecht bezahlt. Warum? Nun: Anders
als in Deutschland gibt es in Frankreich keine Kirchensteuer und
die Gemeinden leben einzig und allein von den Spenden ihrer
Mitglieder. Da ist ein Gehalt für einen festangestellten Kirchenmusiker
schlicht nicht drin. Zudem lautet die Philosophie der Kirche: Wer
es geschafft hat, einen der heißbegehrten Organistenposten
an einer der berühmten Kirchen zu bekommen, sollte ohne
große Mühe sein Salär durch Konzerte,
CD-Einspielungen und Lehraufträge aufbessern können.
Die Armut der Kirchengemeinden und die Geizigkeit des
Staates (dem in der Regel die Kirchengebäude gehören)
hat noch einen weiteren Effekt: Anders als beispielsweise in
Deutschland, wo die historisierenden Ausmalungen in den Kirchen
nach dem zweiten Weltkrieg nahezu restlos beseitigt wurden, sind
die meisten französischen Kirchen noch üppig ausgemalt.
Allerdings - das ist die Kehrseite der Medaille - sind die
Kirchen und mit ihnen die Kunstwerke darin nur allzuoft in
jämmerlichem Zustand (das Foto zeigt eine Seitenkapelle in
St-Sulpice).
Ähnlich
wie die Orgel der Trinité, nur etwas dunkler im Klang,
kommt die Orgel von Notre-Dame d'Auteuil daher, deren
Entstehungs- geschichte beinahe zu fantastisch klingt, um wahr zu
sein. Doch es trug sich tatsächlich so zu: Als die Kirche
Notre-Dame in Auteuil neu gebaut wurde, bestellte der Pfarrer
der Gemeinde, der mit Cavaillé-Coll eng befreundete Abbé
de Lamazou, bei diesem eine Orgel. Diese war etwas vor der Kirche
fertig und harrte in Cavaillé-Colls Werkstatt ihrer
Bestimmung.
Nun stand aber die erste Pariser Weltausstellung
von 1878 vor der Tür und die Verantwortlichen beschlossen
erst auf den wortwörtlich letzten Drücker, in das
spektakuläre Trocadéro-Palais eine Orgel einbauen zu lassen. Diese
musste natürlich vom Feinsten, also von Cavaillé-Coll
sein. Um eine dem Raum angemessene Orgel neu zu bauen, reichte
die Zeit aber nicht aus. So lieh man sich allen Ernstes die
Orgel, die für Notre-Dame d'Auteuil bestimmt war, mit dem
hochheiligen Versprechen, sie sofort nach Beendigung der
Ausstellung an die Gemeinde herauszugeben.
Nur war auch diese
Orgel für den riesigen Hufeisensaal des Trocadéro
schlicht zu klein, so dass CC sie um einige Register und zwei
monumentale Pedaltürme erweiterte, was höchst
verwirrende Besitzverhältnisse zur Folge hatte: Die Orgel an
sich gehörte der Gemeinde, die sie ursprünglich
bestellt (und bezahlt!) hatte, die Erweiterungen der Stadt
Paris...
Die Weltausstellung nahm ihren Lauf und die ganze
Pariser Orgelelite, insbesondere Charles-Marie Widor und
Alexandre Guilmant, konzertierte im Trocadéro unter großem
Publikums-andrang. Der Erfolg war so groß, dass nach
Beendigung der Ausstellung von einem Abriss des Trocadéro
(wie ursprünglich geplant) und der Rückgabe der Orgel
keine Rede mehr sein konnte. Nach langem Hin und Her wurde die
Gemeinde ausbezahlt und konnte sich ein neues Instrument
bestellen, natürlich wiederum von Cavaillé-Coll. Und
eben das steht noch heute dort, in recht originaler Form und
Klangpracht (der Trocadéro wurde dann 1937 doch
abgerissen, heute befindet sich an seiner Stelle das Palais de
Chaillot. Die Orgel steht heute stark verändert im
Auditorium Maurice Ravel in Lyon).
Überhaupt scheinen
Cavaillé-Coll Orgeln dieser mittleren Größe um
40-50 Register herum zumeist besonders gut gelungen zu sein. Sie
klingen warm und kräftig, im Tutti niemals unangenehm oder
gar schreiend und doch auch mit der leisesten Flöte im
ganzen Raum tragend. Ganz anders als deutsche Instrumente dieser
Größenordnung aus den letzten 150 Jahren.
Ein
Opus ähnlicher Größe, aber aus Cavaillé-Colls
später Phase steht in St-Antoine-des-Quinze- Vingts. Auch
diese Orgel hat eine regelrecht bizarre Geschichte: Gebaut wurde
sie nicht für eine Kirche, sondern als Hausorgel (!) für
die Pariser Stadtwohnung des sagenhaft reichen Baron Albert de
l’Espée. Da dieser die Orgel in der Hauptsache für
Wagner- Transkriptionen nutze, stattete Cavaillé-Coll das
Instrument in unüblicher Weise mit zwei Schwellwerken (Récit
und Positif) aus. Der Baron trennte sich allerdings schon nach
wenigen Jahren wieder von seinem Instrument, da sich seine
Nachbarn massiv über das mitternächtliche Orgelspiel
beschwert hatten... Stattdessen ließ er sich, wiederum von
Cavaillé-Coll, für sein recht kurioses Schloss in
Biarritz eine noch größere Orgel erbauen, die er aber
genau so nach wenigen Jahren an Cavaillé-Coll
zurückverkaufte und die heute ebenfalls in einer Pariser
Kirche steht, nämlich in Sacre-Coeur. Die Orgel von
St-Antoine ist im Zustand von 1889, als sie in diese Kirche
transferiert wurde, erhalten.
Beide Orgeln, in St-Antoine-des-Quinze-Vingts wie in Sacre-Coeur, sind in ihrem Klang
wesentlich dunkler und mystischer als ihre älteren
Geschwister. Durch ihre zunächst kirchen(-musikalisch) ferne
Bestimmung sind ihre Dispositionen, weit mehr als bei
Cavaillé-Colls Kircheninstrumenten üblich, orchestral
geprägt und durch ihre zwei Schwellwerke dynamisch noch
flexibler. Trotzdem (oder gerade deswegen?) gelten gerade diese
beiden Orgeln als Paradebeispiele des Cavaillé-Collschen
Orgeltypus der späteren Jahre.
Eine
Orgel wieder ganz anderen Kalibers steht in der sehr zentral gelegenen
Kirche St-Roch, nördlich des Louvre. Hier baute
Cavaillé-Coll zwischen 1840 und 1862 in mehreren
Bauabschnitten eines seiner typischen "Recycling-
Instrumente". Gehäuse und ein Großteil des
Pfeifenwerks wurden aus der barocken Vorgängerorgel
übernommen, wie eigentlich immer, wenn Cavaillé-Coll
eine Orgel umbaute, an der zuvor die berühmte
Orgelbauersippe der Clicquots gearbeitet hatte. CC scheint von
den Arbeiten dieser seiner Vorgänger viel gehalten zu haben,
denn die Wiederverwendung von Material geschah nicht selten gegen
den Widerstand der Kirchengemeinde, also der
Auftraggeber!
St-Roch beherbergt also ein
"Kompromissinstrument" reinster Güte, mit barocken
Mixturen und Zungen und romantischen Grundstimmen. Das klangliche
Ergebnis ist wie immer verblüffend. Französisch-barocke
Musik klingt (zumindest für unsere teutonischen Ohren) ebenso
überzeugend wie romantische.
Ganz
ähnlich wie in St-Roch ist auch die Orgelgeschichte in der
Kathedrale in Versailles (nicht zu verwechseln mit der
Schlosskapelle!): Ursprünglich erbaut von Clicquot, wurde
die Orgel in den 1860er Jahren zweimal von Cavaillé-Coll
umgebaut und um ein achregistriges Récit(chen) erweitert. Von
der Clicquot-Orgel sind noch sämtliche (!) Zungen, viele
Prinzipale, Mixturen und Gedackte erhalten. Von Cavaillé
stammen hauptsächlich traumhaft schöne Flöten, ein
paar Zungen, Streicher und eine neue Mechanik. Der Klang dieser
Orgel ist umwerfend: Die gerade einmal 46 Register füllen die nun wirklich
nicht kleine Kathedrale kraftvoll und mühelos bis in den
letzten hintersten Winkel. Und trotzdem ist der Klang edel, nie forciert oder gar brüllend.
Allerdings sind derartige Instrumente
im Klang eher etwas lichter und leichter als "reinrassige"
Cavaillé-Coll-Orgeln. Auch die Zungen sind etwas spröder,
nicht ganz so wuchtig wie die, die Cavaillé-Coll neu
baute. Und doch, hier klingt Alain genauso gut wie
Couperin! Auffällig sind auch die für unsere deutschen
Ohren sehr milden und so gar nicht spitzen Mixturen, was zum
einen aus ihrer Intonation resultiert, zum anderen darauf, dass
sie recht tief liegen. Auch diese spätbarocken Mixturen
übernahm Cavaillé-Coll häufig.
Die
Kathedrale von Pontoise beherbergt eine Cavaillé-
Coll-Orgel, die, wiewohl in den ursprünglichen Zustand von
1877 zurückversetzt, ein Schattendasein fristet und
diskografisch nicht bekannt ist. Vollkommen zu Unrecht! Zwar ist
die Orgel, wie auch die Kirche, in keinem taufrischen Zustand,
doch tut das ihrem Klangzauber keinen Abbruch. "Sankt
Aristide" hat auch hier, wie so oft, eine Synthese aus alt
und neu verwirklicht.
Höhepunkt
Nr. 2 der 2006er Reise war ein-deutig Rouen. Nun war zwar bei
Lichte betrachtet JEDE der Orgeln auf diesen Reisen ein
Höhepunkt, doch in meinem per- sönlichen
Cavaillé-Coll-Ranking sind die Plätze 1-3 seit jeher
wie folgt belegt: 1) Rouen, St-Ouen 2) Paris, Notre-Dame 3)
Paris, St-Sulpice. In Rouen trat für mich allerdings die
Orgel zunächst völlig in den Hintergrund. Ich war, kaum
dass wir die Kirche betreten hatten, so völlig überwältigt
von diesem spätgotischen Raum und seinem Flamboyant-Maßwerk,
dass die Orgel erst einmal abgemeldet war. Der Raum selbst nahm
mich viel zu sehr gefangen. Erst, als ich mich nach etwas weniger
als einer Stunde fürs erste an ihm satt gesehen hatte, hatte
ich Augen und Ohren für SIE.
Es ist wirklich
erstaunlich: Diese wahrlich nicht kleine Orgel verschwindet
beinahe in dieser Kirche mit ihren 33 Metern Höhe und sicher
12 Metern Breite im Mittelschiff. Was vielleicht auch damit
zusammenhängt, dass sie im Vergleich mit anderen Kirchen
dieses Ausmaßes, verhältnismäßig tief,
nämlich fast exakt mittig, an der Westwand steht. Dadurch
bekommt die Orgel in St-Ouen aber auch diesen wahnsinnig
intensiven (nicht lauten!), direkten Klang. Die Orgel ist
wirklich ein akustisches Juwel. Warm, mystisch dunkel, aber nie
mulmig und verschwommen wie deutsche Orgeln dieser Zeit, sondern
stets klar und präzise. Im Piano wie im Tutti gleichermaßen
im Raum präsent und auch im Chor und selbst in den Quer- und
Seitenschiffen sehr gut zu hören. Bei den Chamades sollte
man übrigens keine Krachmacher à la Notre-Dame
erwarten. Sie sollen nicht laut sein, sondern färben den
Klang der Orgel charakteristisch, anstatt ihn zu übertönen.
St-Ouen stellt den frankophilen Orgelfreund mit
architektonischem Faible (lies: Leute wie mich) vor eine schier
unlösbare Aufgabe: Sich zu entscheiden zwischen Raum und
Instrument. Beide sind von so außerordentlicher Schönheit,
dass man sich immer zwischen ihnen hin und her gerissen sieht wie
zwischen zwei köstlichen Früchten.
Der
letzte Programmpunkt des an Höhepunkten gewiss nicht armen
zweiten Tages der 2006er Reise machte die grazile Schönheit
der Kirche St-Ouen nur noch deutlicher: St-Denis ist zwar die
Wiege der französischen Gotik, Grabes- kirche der
französischen Könige und Heimat von Cavaillé-Colls
Opus 1, aber all das kann den Kontrast zu St-Ouen nicht mildern.
Natürlich liegen zwischen beiden Bauten auch mehrere hundert
Jahre. Zudem ist St-Denis im Gegensatz zu St-Ouen in einem
schlechten Zustand. Der 1854 einge- stürzte Nordwestturm
fehlt noch immer, die Kirche starrt außen vom Dreck der
Jahrhunderte, der Innenraum ist derzeit eine einzige große
Baustelle. Zudem ist St-Denis zwangsläufig mit den
Grabmälern zahlloser französischer Könige und
ihrer Angehörigen angefüllt, die mit abnehmendem Alter
an Monumentalität zunehmen und nur allzu oft in krassem
stilistischem Gegensatz zum sie umgebenden Bauwerk stehen.
Die
Orgel dagegen fügt sich, im mehr als Halbdunkel der Kirche
fast unsichtbar, mit ihrer Neogotik recht harmonisch in den Raum
ein. Wer hier symphonische Cavaillé-Coll-Klänge
erwartet, wird, wie ich mal wieder, enttäuscht. Diese Orgel
ist noch ganz der spätklassischen französischen
Orgelbautradition verhaftet und führt diese zu einem
monumentalen Abschluss. Der Klang ist frisch und klar, weit
entfernt vom satt-dunklen Klang St-Ouens. Die Zungenchöre
sind nach traditionellem Muster oftmals doppelt besetzt und auf
ein kontrastierendes Gegeneinander ausgelegt. Sicher, Franck
klingt hier überzeugend, ebenso Saint-Saens oder
Lefébure-Wély. De Gringy, Clérambault und
Corette aber eben auch.
St-Augustin. Wieder einmal keine Cavaillé- Coll-Orgel aus
einem Guß. Erbaut wurde die Orgel 1868 als eine der ersten
Orgeln mit elektro- pneumatischer Traktur durch Verschneider
(zusammen mit Charles Barker, den Erfinder des gleichnamigen
Hebels, der für den französischen Orgelbau so immens
wichtig werden sollte). 1899 mechanisierte Cavaillé-Coll
die Orgel, die modernere Traktur war wohl nicht überzeugend
gelungen. Barker hatte übrigens mit seinen eigenen
Orgelbauten nicht allzu viel Glück: Seine Orgeln wurden
oftmals rasch ersetzt oder zumindest tiefgreifend umgebaut. Sein
(mutmaßliches) Opus maximum in St-Eustache zerstörte
er auch noch selbst, wenn gleich unabsichtlich: Eine im
Orgelinnern fallengelassene Kerze vernichtete das gesamte
Instrument und beinahe auch die Kirche.
Die Kirche ist im
Übrigen in einem derart bedenklichen Zustand, dass die
Gemeinde ihre Messen in der benachbarten Madeleine abhält.
Für uns schien dagegen keine Gefahr zu bestehen...
Offen
gestanden: In St-Augustin hat mich der Kirchenraum mehr
begeistert (erster Kirchenbau in Paris mit einem Eisenskelett)
als die Orgel. Vielleicht lag das aber auch schlichtweg an dem
schon erwähnten Überangebot an fantastischen Orgeln...
Aber
jetzt! La Madeleine! Hier kehrte sich für mich das
Verhältnis von Raum und Orgel um. Ersterer ist in meinen
Augen schlichtweg geschmacklos. Dieses Übermaß an
Schnörkeln, Marmor, Stuck und Gold, dieser krasse Gegensatz
zwischen außen und innen! Außen à la
griechische Antike, innen à la italienische Renaissance.
Nun ja. Die Orgel hat optisch einen gewissen Reiz, ist mir
letztendlich aber auch zu protzig. Klanglich hingegen sehr fein.
Das ist charakteristisch für alle Orgeln, die wir auf dieser
Fahrt gehört haben: Sie füllen den Raum, kleiden ihn
mit Wohlklang aus, aber immer, ohne zu brüllen. Und wer
Chamaden nur von CDs (schlimmstenfalls die von Notre-Dame de
Paris) gewohnt ist, wird hier wie in Rouen sein blaues Wunder
erleben: Cavaillé-Colls Chamades quäken nicht,
sondern sie fungieren durch ihre überdeutlichen Obertöne
quasi als Zungen-Mixturen. Kraft ja, aber kein Geschrei. Die
Chamaden sind in der Madeleine übrigens so geschickt und
diskret angebracht (nachträglich, sie waren von Cavaillé-Coll zwar an genau dieser Stelle
vorgesehen, aber noch nicht realisiert worden) dass zumindest ich sie nur von einer
bestimmten Position recht weit unter der Orgel erkennen konnte.
2007
folgte auf die Madeleine Ste-Clotilde mit der Orgel César
Francks. Nun ja, oder was von ihr noch übrig ist. Nachdem
schon Charles Tournemire und Jean Langlais, zwei weitere
hochberühmte Titulaires von Ste-Clotilde, die Orgel jeweils
nach ihren Vorstellungen umgebaut hatten, griff der derzeitige
Titulaire Jaques Taddei 2004 nochmals tief in die Schatulle und
"restaurierte" die Orgel auf den modernsten Stand mit
zweitem fahrbarem Spieltisch, Anschluss der Chororgel (die
übrigens ebenfalls im Westen steht, eine Empore unter der
Hauptorgel...), Chamades etc.
Das klangliche Ergebnis ist
enttäuschend. Vom Klangzauber Cavaillé-Colls ist
nichts mehr übrig, die Orgel klingt wie "von der
Stange", kühl, hart, flach. Schade drum.
Vor
der Krönung des dritten Tages 2006 hatten einige Reiseteilnehmer geradezu
Angst: Denn die Orgel von Notre-Dame ist ja nicht eben für
mangelnde Lautstärke bekannt. Zugegeben, die Orgel IST laut.
Aber wiederum gilt: sie brüllt nicht (auf der Empore gilt
dieser Satz allerdings nur bedingt). Die hohe Lautstärke ist
nicht schmerzhaft. Nun gut, vielleicht doch bei den
Cocherau-Chamades. Die sind wirklich sehr aggressiv, dabei
wurden sie bereits abgemildert (ursprünglich hatten sie einen Schalldruck
von 110 dB, was einer startenden Concorde entspricht!). Der Organist, der ja
direkt unter ihnen sitzt, tut einem schon leid... Aber die
Bombarde 32'! Herrliches Donnergrollen! Was ihrer Schwester in
St-Sulpice fehlt, hat sie schon fast im Übermaß: Biß. Aber auch hier gilt,
wie für so viele Orgeln Cavaillé-Colls: Noch die leisteste Achtfußflöte
ist präsent im Raum und jedes einzelne Register ist beinahe unfassbar schön ausintoniert.
Diese Orgel kann nicht nur laut sein!
Der offensichtliche (bzw. offen hörbare) klangliche Unterschied
zur deutlich größeren Orgel von St-Sulpice ist allerdings nicht ausschließlich
ein Resultat der massiven Umbauten, denen diese Orgel seither unterzogen
wurde. Er war schon in ihrer ursprünglichen Disposition angelegt und
gewollt. Während St-Sulpice in erster Linie als
die Kirche eines Priesterseminars und Pfarrkirche der gehobenen Pariser Gesellschaft
mit einer sehr farbenreichen, aber in ihrer Tendenz eher "kammermusikalischen" Orgel
ausgestattet wurde, bedurfte es in Notre-Dame, DER Kirche Frankreichs, einer
beinahe militärischen Anmutung, quasi eine musikalische Verkörperung der Größe
Frankreichs. Insgesamt gilt wirklich: Diese Orgel ist nichts für
Kammermusik.
Ich gestehe es ganz offen: Hier war 2006
für mich der absolute Höhepunkt der vier Reisetage
gekommen. Nicht, weil es mit vergönnt war, diese Orgel live
hören zu können, auch nicht, weil Olivier Latry
höchstselbst für uns improvisierte. Nein, es war die
Tatsache, dass wir das für mich unglaubliche Glück
hatten, Notre-Dame ganz für uns allein zu haben, ohne
Touristenströme. Wer diese Kirche gezwungenermaßen nur
als einer von tausenden durchgeschleusten Touristen kennt,
bekommt nur einen sehr schwachen Eindruck von der fast
überirdischen Schönheit und Erhabenheit dieses Raumes.
Auch hier rückte für mich wieder die Orgel, die ja
eigentlich das Zentrum hätte sein sollen (und für die
allermeisten auch war), weit weg. Ich hatte die nie erwartete
Gelegenheit, das in meinen Augen vielleicht schönste Maßwerkfenster
überhaupt, die Rosette des Nordquerhauses von Notre-Dame,
endlich einmal so ausgiebig wie ich nur wollte und vor allem in
aller Ruhe betrachten zu können.
2007
gab es vor dem Besuch von Notre-Dame (diesmal MIT den ebenso
unvermeidlichen wie endlosen Touristen-strömen) ein
Kontrast-programm im Form der Orgel von St-Louis-en-Île,
nahe an Notre-Dame gelegen.
Gebaut 2003 von Aubertin in
Anlehnung an nord- und mitteldeutsche Instrumente des Barock,
bildet sie quasi den Gegenpol zur Hyper-Romantik Notre-Dames.
Wenn man, wie wir, seit Tagen nur romantische oder romantisch
geprägte Instrumente französischer Provinienz gehört
hat, ist der Klang dieser Orgel zunächst wie ein
Kaltwasserguß. Ein vollkommen anderes Klangideal eben. Doch
spricht diese "deutsche" Orgel mit einem kräftigen
französischen Akzent, kann ihre Herkunft aus den Händen
eines französischen Orgelbauers nicht verleugnen.
Im
Klang recht harsch, für den Raum eher zu kräftig,
kommen die Zungen, insbesondere die des Pedals, sehr massig
daher. Zwar ist ihnen das leicht nasale Timbre der Vorbilder zu
eigen, doch sind diese weitaus schlanker, weniger dick. Der 32'
heißt verharmlosend Kontra-Dulzian, hätte sich den
Titel "Bombarde" aber redlich verdient.
Den
Abschluss bildete 2006 wie 2007 die Kathedrale von Laon. Schon
allein dieses Bauwerk hätte die ganze Reise gerechtfertigt!
Erst recht zusammen mit St-Quen in Rouen und Notre-Dame de Paris.
Wer etwas über die Philosophie der französischen
Kathedralgotik lernen will, muss hierher kommen!
Die Orgel
ist in diesem Falle einmal nicht von Cavaillé-Coll,
sondern von Henri Didier, der sie 1899 auf Verlangen der
Auftraggeber aber à la Cavaillé-Coll bauen musste.
Selbst der Spieltisch ist eine perfekte Imitation, aber natürlich keiner "à la amphithéâtre" wie in St-Sulpice, sondern
in der einfacheren Form, wie es ihn beispielsweise in Rouen oder Toulouse gibt. Die Orgel klingt
ein wenig flacher als ihre Vorbilder, aber im gesamten Raum
trotzdem voll und satt. Symphonisches Strömen anstatt
orgiastisches Brausen wie in Notre-Dame.
Der Gerechtigkeit
halber muss allerdings gesagt werden, dass die Orgel seit ihrer
Erbauung erst einmal gereinigt wurde und ansonsten den Orgelbauer
höchstens zum Stimmen der Zungen sieht! Französische
Wertarbeit in Reinkultur. Nicht auszudenken, was eine schlichte
Generalreinigung mit Nachintonation und Trakturregulierung aus
dieser Orgel machen könnte! Zunächst einmal war die
Orgel jedoch im Sommer 2007 Wind, Wetter und Dreck ausgesetzt, da
die Verglasung der Westrosette im Rahmen der
Fassadenrestaurierung ausgebaut wurde...
2007
ging es am letzten Tag vor dem Abschluss in Laon noch nach
Soissons, in dessen Kathedrale eine "Orgue neo-klassique"
aus dem Hause Gonzalez von 1956 steht. Zwar liest sich die
Disposition nicht allzu dramatisch, noch immer gibt es bei 68
Registern 24 labiale 16' und 8', doch lässt der Klang die
radikale Abkehr vom romantisch-symphonischen Klangideal erkennen.
Die Orgel klingt sehr verhalten, fast wie unter dicken
Tüchern begraben, unterhalb des Tutti will sich ein "satter"
Klang nicht einstellen. Und auch noch im Tutti klingt diese Orgel
für den gewaltigen Raum sehr, sehr mager. Symphonisches
Brausen ade, willkommen in der neuen Sachlichkeit...
(P.S.: Im Januar 2017 wurde die Westrosette der Kathedrale durch den
Orkan "Egon" zerstört.
Die tonnenschweren Maßwerkstücke sind dabei in die unmittelbar daruntergelegene
Orgel gestürzt und haben dort schwerste Schäden angerichtet. Teile des Pfeifenwerks und der Traktur
wurden buchstäblich zermalmt.)
Ein Resumée? Ja. Ein
wenig beschleicht mich ein schlechtes Gewissen, denn für
mich spielten allzu oft die Orgeln, um die es doch gehen sollte,
die zweite Geige und wurden ausgestochen von ihren Behausungen.
Aber es gibt auch einfach so viele unfassbar schöne Kirchen
in Frankreich und in Paris besonders! Bei nächster
Gelegenheit gilt: Für halb so viele Orte doppelt so viel
Zeit! Französische Kathedralgotik will geatmet und
aufgesogen werden, nicht im Vorüberhasten flüchtig
wahrgenommen.
Was die Orgeln betrifft, so
ist mein Fazit recht pessimistisch:
Wer die in Deutschland
gerade so modischen Instrumente "à la française"
kennt, wird in Frankreich erst einmal einen richtigen
Kulturschock erleiden. Verglichen mit den Originalen klingen
unsere deutschen „französisch-symphonischen“
Orgeln immer noch durch und durch teutonisch: Hart, grob, oftmals
brüllend und drückend laut, ohne Schmelz und intimes
Funkeln, dafür mit klingelnden Mixturen, die jeder neo-barocken Orgel
zur Ehre gereichen würden. Ich für meinen Teil kenne kein einziges
neues Instrument in Deutschland, das es mit der Klangkultur und
Farbigkeit einer "echten" Cavaillé-Coll-Orgel tatsächlich aufnehmen könnte.
(Der Fairness halber muss allerdings
erwähnt werden, dass nahezu keiner der angesprochenen Orgelneubauten in Deutschland eine reinrassige
französisch(-symphonische) Stilkopie ist. Es handelt sich in nahezu allen Fällen um "Kompromissorgeln",
die zwar einerseits französische Orgelsymphonik authentisch erklingen lassen sollen,
auf der anderen Seite aber immer auch zumindest für die Musik Johann Sebastian Bachs geeignet sein sollen.
Und das ist, insbesondere was die Mixturen betrifft, eigentlich die Quadratur des Kreises: Französische Mixturen, die Founitures und Cymbales,
sind per se für homophone Musik gedacht. Polyphone Sätze hingegen verunklaren sie.)
Es scheint so, als wohne den
Instrumenten Cavaillé-Colls eine Genialität inne, die
nicht abgekupfert werden kann. Dies wird auch schon in Frankreich
selbst deutlich: Die Instrumente von St-Joseph-des-Nations in
Paris und in der Kathedrale von Laon beispielsweise stammen beide
von namhaften französischen Orgelbauern aus der Zeit
Cavaillé-Colls, doch erreichen sie nicht im Entferntesten
den Klangzauber der Instrumente aus der Werkstatt Cavaillé-Colls
mit dessen kongenialen Intonateurs-Brüdern Félix und
Gabriel Reinburg.
Die - leider nicht ganz billige - DVD+CD-Box
"The Genius of Cavaillé-Coll" bietet einen hervorragenden Einblick in Leben, Werk und Klangphilosophie
des großen Orgelbauers. Für Freunde dieser Orgeln in jedem Fall sehr gut angelegtes Geld!
Man kann allen Organisten
und Orgelbauern, die sich in Deutschland (und anderswo) damit
abmühen, Cavaillé-Coll und Kollegen nachzuahmen, ja
zu kopieren, nur zurufen: „Lasst alle Hoffnung fahren!“.
Zum einen, weil sich weder ein Cavaillé-Coll, noch ein
Reinburg oder Merklin oder Schnitger oder Gabler jemals wird
wirklich kopieren lassen. Zum anderen haben wir schlicht nicht
die passenden Räume. Orgel und Raum lassen sich nicht
trennen und Cavaillé-Colls Ausspruch "Das wichtigste
Register einer Orgel ist der Raum in dem sie steht" erweist
sich hier als nur zu wahr. Die französisch-symphonische
Orgel und die Musik der dazu gehörenden Komponisten braucht
ihre französische Kathedralakustik, wie sie in Paris sogar
in "kleineren" Kirchen (auch die haben bisweilen
durchaus Kathedralmaße) herrscht. Ohne solche Räume
bleiben diese Orgeln immer ein Schatten ihrer selbst.
(Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist unter dem Titel
"Orgelgenüsse mit Suchtpotenzial"
in Heft 4/2006 von organ - Journal für die Orgel erschienen.)